13. Juni 2008

Die Anderen


Kurt Tucholsky „Der andre Mann“
Du lernst ihn in einer Gesellschaft kennen.
Er plaudert. Er ist zu dir nett.
Er kann dir alle Tenniscracks nennen.
Er sieht gut aus. Ohne Fett.
Er tanzt ausgezeichnet. Du siehst ihn dir an ...
Dann tritt zu euch beiden dein Mann.
Und du vergleichst sie in deinem Gemüte.
Dein Mann kommt nicht gut dabei weg.
Wie er schon dasteht – du liebe Güte!
Und hinten am Hals der Speck!
Und du denkst bei dir so: »Eigentlich ...
Der da wäre ein Mann für mich!«
Ach, gnädige Frau! Hör auf einen wahren
und guten alten Papa!
Hättst du den Neuen: in ein, zwei Jahren
ständest du ebenso da!
Dann kennst du seine Nuancen beim Kosen;
dann kennst du ihn in Unterhosen;
dann wird er satt in deinem Besitze;
dann kennst du alle seine Witze.
Dann siehst du ihn in Freude und Zorn,
von oben und unten, von hinten und vorn ...
Glaub mir: wenn man uns näher kennt,
gibt sich das mit dem happy end.
Wir sind manchmal reizend, auf einer Feier ...
und den Rest des Tages ganz wie Herr Meyer.
Beurteil uns nie nach den besten Stunden.
Und hast du einen Kerl gefunden,
mit dem man einigermaßen auskommen kann:
dann bleib bei dem eigenen Mann!

(Aus: Die Weltbühne, 21.10.1930, Nr. 43, S. 630)

Sibylle Berg: Wohin springen die denn
„Lebensentwürfe gibt es, die nachzuvollziehen nur mit größter Mühe gelingen mag. Erwachsene Menschen stehen nach 20, 30 gemeinsam verbrachten Jahren voreinander, und dann sagt einer Sätze wie: Du, es ist einfach so passiert. Ich konnte mich nicht dagegen wehren. Ich habe doch auch ein Recht darauf, glücklich zu sein!
Die Sätze meinen: Ich habe mich verknallt, die Hormone rauschen noch mal so richtig fett durch meinen Körper, hurra, ich hab noch einmal eine Erektion gehabt, jippi, mir ist es gekommen, und jetzt mal tschüss. Dann packen sie ihr Köfferchen - du hörst von meinem Anwalt - und schlagen die Tür noch nicht mal zu.
Immer wenn ich so eine Geschichte höre oder lese, werde ich ganz starr vor Elend. ICH VERSTEHE DAS NICHT!
(…)
Und dann: Ich habe mich verliebt, es ist einfach so passiert. Blöder geht es nicht. Keinem passiert Verlieben einfach so. Das muss man wollen. Und zulassen. Genauso dämlich wie Frauen, die sich in verheiratete Väter mit fünf Kindern verlieben - "Ich konnte mich nicht dagegen wehren" - ist das. Madame-Bovary-Quatsch. Natürlich schlafen in uns allen genetische Programmierungen, die nach Paarung schreien. Natürlich sieht man immer wieder einen netten Menschen, einen potenziellen Partner. Vielleicht verliert man sich mithin in erregenden Gesprächen, von denen man glaubt, sie so lebendig noch nie vorher erlebt zu haben. Aber darum einen Menschen verraten, mit dem man sein halbes Leben verbracht hat? Was bleibt denn von dem noch so attraktiven, noch so anregenden neuen Gegenüber nach zehn Jahren?(…)“ Weiterlesen
Ich würde Frau Berg gerne zustimmen, aber vielleicht erst in 15-20 Jahren. Irgendetwas in mir trotzt diesen wohlüberlegten und deprimierend vernünftigen Gedanken, die mit meinen im Grunde übereinstimmen. Sie stimmen immer dann, wenn es sich gerade um eine Beziehung handelt, die funktioniert, in der man glücklich ist und auch zusammen mit dem Partner dieses Glück gestaltet. In solchem Fall sollte man dies nicht so leicht aufs Spiel setzen und nur der Hormone wegen dem prallen Busen oder den trunkenen Gesprächen unter Sternen hinterher laufen. 

Sie stimmen aber vor allem immer aus der Sicht des Verlassenen. Jedoch wenn die Beziehung nicht auf der Glückes Seite war, dann … Wenn es nicht gelang, die Gefühle aufrecht zu erhalten… Die Liebe zu einem anderen Menschen kann auch darin bestehen, ihn gehen zu lassen, wenn man sieht, dass er mit dem Anderen / der Anderen woanders glücklicher sein kann. Vielleicht ist es sogar etwas, was dem Begriff der wahren Liebe nahe kommt, dass man dem geliebten Ex-Partner den Neuanfang gönnt.

Wollen und Zulassen sind schöne Worte und Vorwürfe, bei denen alles ziemlich berechenbar zu sein scheint. Es verbleibt nichts mehr von Neugier und Neuentdeckungen, die uns doch immer prägen und den Fortschritt unseres gänzlichen Lebens ankurbeln. Das Prinzip der allgegenwärtigen Austauschbarkeit ist mir dabei allerdings genau so fremd, wie der Autorin Berg.

Ob die Reife im Gehirn reicht, um den Versuchungen zu widerstehen? Ob das reicht, um auf der ewigen Suche nach Liebe trotz der schmerzlichen Erfahrungen und Bloßlegungen, die jedes lebendige Herz mit sich schleppt, vernünftig und ruhig sitzen zu bleiben? Dies kann kein Mensch mit Zuversicht behaupten. Ja, die Hormone sind stärker. Ja, der Wunsch nach Geborgenheit, die sich in neuen, fremden Händen und Laken schöner anzufühlen scheint, auch.

Diejenigen allerdings, die nach den ewigen Wanderungen durch fremde Betten und Herzen müde und gleichgültig geworden sind, können auch diesen Beitrag von Sibylle Berg nachlesen.

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