28. September 2012

Was ist Freiheit


Um zwei Uhr siebzehn nachts essen gehen oder sich einen arg mystischen Film vor dem Einschlafen anschauen, obwohl man weiß, dass jeder Schatten in der Wohnung danach zum Mörder wird. Morgens den Wecker ausschalten und nicht zur Arbeit gehen. Ein luftiges Kleid anhaben und an einem windigen Durchzug einer Straße barfuß mit geschlossenen Augen stehen. Nackt sein. Lächerlich erscheinen. Frieren. Ich sein dürfen. Keine Angst haben, zu lachen. Das Glück nicht spielen müssen. Dumm sein. Wahrheit sagen dürfen. Wahrheit verstecken können. Nicht lügen müssen. Geliebt sein. Treppenschritte zählen oder etliche Bäume beim Zugfahren. Nachts einkaufen gehen. Ausschreien können. Denjenigen küssen, den man will. Denjenigen nicht küssen, den man will. Einsam sein. Von einem Fremden berührt werden. Da. Und da. Unvernünftig  sein. Sich nichts verbieten lassen. F.. you - sagen dürfen. F... me - sagen können. Traurig sein. Illusionen schaffen und sie danach zerbrechen. Verdammt unvernünftig sein. Sehnsucht scharlachrot färben. Demjenigen, den man liebt, es auch sagen können. Gehört werden. Empfindungen nicht definieren müssen. Gefühle fühlen können. Sie unterdrücken. Sich selbst vergessen. Verletzbarkeit zeigen. Genug Geld für Wohnung und Bücher haben. Einem Bruder sagen können, dass er einer wäre und ich ihn all die Jahre vermisst hätte. Jüdin sein. Keine Angst haben, dümmer zu sein, als andere. Auch klüger. Sex. Keine Angst haben, eigene Meinung zu äußern. Nicht allein sein. Allein sein. An niemanden denken. Träumen. Von jemandem träumen. Weinen dürfen. Nach New York wollen. Außerseits sein. Zukunft haben. Leidenschaftlich sein dürfen. In den USA leben. Ostsee riechen. Mit jemandem schlafen, den ich will. Neben ihm aufwachen und verschwinden. Um neben ihm bloß zu sterben. Seine Handfläche küssen. Sein Geschlecht spüren. Schlafenden Ihn anschauen. Glück. Heimat haben. Unglücklich sein. Meinen Vornamen von Lippen eines Anderen lesen können. Aufwachen. Riechen. Kindisch sein. Schreiben. Fühlen. Denken. Vermissen. Ersticken. Nein. Ja sagen können. Malen. Aufatmen. Begehren. Frühling statt Herbstes umarmen. Seine Zungen spüren. Lieben. 

Das ist Freiheit.

27. September 2012

[Bild: Ann, September 2012] 

Goldfrapp "Lovely head"



Bereits früher  zitierte ich Gedanken Hannah Arendts zur Liebe: Teil 1 und Teil 2. Neulich fand ich einige von ihnen wieder, diesmal ist einer der Ausschnitte ungekürzt:
"Liebe ist ein Ereignis, aus dem eine Geschichte werden kann oder ein Geschick.

Die Ehe als Institution der Gesellschaft zerreibt dies Ereignis, wie alle Institutionen die Ereignisse aufzehren, auf denen die gegründet waren. Institutionen, die sich auf Ereignisse gründen, halten der Zeit so lange Stand, als die Ereignisse nicht völlig aufgezehrt sind. Vor solchem Verzehrt-werden sind nur Institutionen sicher, die auf Gesetzen basieren. Solange die Ehe, immer zweideutig in dieser Hinsicht, als unscheidbar galt, war sie doch wesentlich auf dem Gesetz, nicht auf dem Ereignis der Liebe gegründet und damit eine echte Institution.


Inzwischen ist die Ehe zur Institution der Liebe geworden, und als solche ist sie noch um ein weniges hinfälliger als die meisten Institutionen der Zeit. Die Liebe wiederum ist seit ihrer Institutionalisierung ganz und gar heimat- und schutzlos geworden.


Dagegen protestieren Männer wie Frauen, jeder auf seine Weise. Beide versuchen, die zunehmende Flüchtigkeit der Liebe, ihre zunehmende Substanzlosigkeit zu verhindern. Die Frauen, indem sie aus der Liebe, die ein Ereignis ist, ein Gefühl machen, was nicht nur die Liebe degradiert, weil ein Göttliches zu einem Menschlichen gemacht wird, sondern auch alle Gefühle degradiert, weil sie offenbar dem Feuer der Liebe, an dem sie gemessen werden, nicht standhalten.


Der Irrtum kommt daher, dass die Liebe sich im Herzen des Menschen einnistet; das menschliche Herz ist die Wohnung, aber nicht die Heimat! der Liebe; das Missverständnis ist zu glauben, die Liebe entspringe dem Herzen und sei daher, mit einem weiteren Missverständnis, vom Herzen wie ein Gefühl hervorgebracht.
Diesem Gefühl geben die Frauen – die besten gerade, die die Institutionalisierung der Liebe durch Ehe mit Recht fürchten – sich hin, mit dem Erfolg, dass die Liebe im Gefühl und von ihm verzehrt wird, dass der dazugehörende Mann sich so schnell wie möglich retten muss, denn es geht ihm wirklich ans Leben!, und dass die Frauen, meist nur gelinde enttäuscht über die Flucht des für das Gefühl eher störenden Mannes, aus der »Liebe« ihren Lebensunterhalt machen. Inhalt eines Lebens kann die Liebe aber nur werden, wenn sie mindestens ein halb Dutzend Kinder hervorgebracht hat, zwecks täglicher Beschäftigung. Dann aber geht der ganze Humbug in der entstehenden ernsten Arbeit ohnehin zum Teufel. Die Frauen, deren Lebensinhalt die Liebe als solche ist, gehen meist an Tagträumerei oder, in selteneren Fällen, an Langeweile zugrunde.


Der Protest der Männer führt zu dem Umdenken der Liebe in Freundschaft. Zu diesen gehören wesentlich Kants Definition der Ehe, deren Gegenseitigkeit ein Kontrakt der Freundschaft verbürgt, dieser Kontrakt hat nur leider zum Inhalt, was keine Freundschaft schon rein physisch je zu leisten vermag. Auch Nietzsches Bemerkung, dass der größte Teil der Ehe der Unterhaltung gilt, weist in die Richtung: Sie schlägt vor, Kriterien der Freundschaft zu Kriterien der Ehe zu machen. Keine Freundschaft aber kann tragen, was eine Ehe zumutet. Wenn der Freundschaft zugemutet wird das tägliche Zusammen der Ehe oder der Liebe, geht sie zugrunde. – Die Ehe als reine, legal gesicherte Institution kann das Zusammen mühelos ertragen, nicht nur um der Kinder willen, sondern weil eine solches Tragen oder Ertragen gar nicht zum Problem wird. Sie wahrt ja immer die absolute Distanz der Partner, die in der Liebe durchbrannt wird und in der Freundschaft dauernd überbrückt.


Zur Abgrenzung: Gefühle habe ich; die Liebe hat mich. Freundschaft ist wesensmäßig abhängig von ihrer Dauer – eine zwei Wochen alte Freundschaft existiert nicht; die Liebe ist immer ein »coup de foudre«."
[Auszug aus: Hannah Arendt, Denktagebuch. 1950-1973, 2 Bde., hrsg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann, München-Zürich 2002.]

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