22. Mai 2013

Sarah Kirsch und ihre Sehnsucht

Es ist ein mit nichts zu vergleichendes Gefühl, wenn man erfährt, dass eine große Dichterin tot ist. Sarah Kirsch hat uns verlassen. Zum ersten Mal schmerzte es mir sehr, als ich erfuhr, dass Hilde Domin 2006 verstorben war. Ich hatte keine Möglichkeit genutzt, sie zu besuchen, ihr zuzuhören, ihre Hand zu halten, ihr Herz zu hören. Ich wusste noch nicht von ihr, als sie lebte.

Sarah Kirschs Gedichte kenne ich leider erst seit paar Jahren, empfohlen auch von einer Anna. Was für Verlust jetzt. Erst vor kurzem zitierte ich sie hier im Blog, verbunden mit etwas sehr Nahem für mich..., erst jetzt lese ich aus ihrer Biographie. Nach der Heirat mit dem Lyriker Rainer Kirsch hat Ingrid Bernstein seinen Namen erhalten. Als sie in den 1960er Jahren angefangen hatte, sich selbst zu veröffentlichen, nahm sie sich den Vornamen Sarah an. Warum? Aus Protest gegen die Vernichtung und Massenermordung von Juden während der Zeit des Nationalsozialismus. Aus Protest gegen den Antisemitismus ihres einige Jahre zuvor verstorbenen Vaters...

Sie liebte einen Lyriker aus West-Berlin, protestierte gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR, wurde von der Stasi bespitzelt, nach der Ausbürgerung siedelte sie 1977 in den Westen um.

"Ihr Lyrikband "Zaubersprüche" wird als "in sexueller und erotischer Hinsicht freiester Gedichtband aus der ganzen bekannten deutschsprachigen Frauenlyrik" beurteilt." Link

Ihre Lyrik ist mal sanft, mal stark. Mal ist sie zärtlich, kühl, furchtbar erotisch. Sehnsucht. Vielleicht, weil ich an derselben, von den Anderen missverstanden, leide, kann ich sie fühlen... Lyrik eben.


Bild von ihr: Bundesarchiv Bild 183-C0515-0010-042, Berlin, Ausstellung Klub der Jugend, Sarah Kirsch / Banque / CC-BY-SA [CC-BY-SA-3.0-de], via Wikimedia Commons 


Sarah Kirsch (16. April 1935 - 05. Mai 2013)
Ich bin sehr sanft

Ich bin sehr sanft nenn
mich Kamille
meine Finger sind zärtlich baun
Kirchen in deiner Hand meine Nägel
Flügelschuppen von Engeln liebkosen ich bin
der Sommer der Herbst selbst der Winter im Frühling
möchte ich bei dir sein du
zeigst mir das Land wir gehn
von See zu See da braucht es
ein langes glückliches Leben
die Fische sind zwei
die Vögel baun Nester wir
stehn auf demselben Blatt

Jetzt

Ich lebe in Saus und Braus, du spazierst
In meinem Kopf den ganzen
Verrückten Sommer. Schwanzsterne ziehn
Und von denen Kometen strahln mir die Augen.


Meine Worte gehorchen mir nicht
Kaum hör ich sie wieder mein Himmel
Dehnt sich will deinen erreichen
Bald wird er zerspringen ich atme
Schon kleine Züge mein Herzschlag
Ist siebnfach geworden schickt unaufhörlilch
Und kaum verschlüsselte Botschaften aus

 
Immer

Immer wollen dich meine Augen
Fliegt mein Haar dir zu, oft
Unter die Füsse mein Schatten
Mischt sich in deinen, Salzkorn
Streu ich dir hin schon ein Jahr

 
Sarah Kirsch zum Geburtstag
Sehnsucht nach Liebe
M Reich-Ranicki 15.04.2005

"Wonach sehnt sie sich denn? Nach Freude, nach Erfüllung, nach Glück? Vielleicht genügt hier ein einziges Wort, jenes, das, wie Philologen errechnet haben, in Goethes Werk am häufigsten vorkommt: das Wort Liebe. Von ihr ist in der Poesie der Kirsch stets die Rede, auch dann, wenn sie sich scheut, sie zu erwähnen: Ohne die Liebe im weitesten und tiefsten Sinne kann und will sie die Welt nicht wahrnehmen.

Diese Dichterin ist, könnte man sagen, eine Panerotikerin. Erotisch ist ihr Verhältnis zur Natur, zu den Menschen und den Tieren, zum Mond, zur Sonne und zu den Sternen, zum ganzen Universum und schließlich, in ihren Sturm- und-Drang-Jahren, sogar zur Politik, sogar, man wird es kaum glauben, zu dem Land, das eine Zeitlang ihre Heimat war, zur Deutschen Demokratischen Republik.
„Ob himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt“, hatte Marcel Reich-Ranicki zum siebzigsten Geburtstag der Dichterin in der F.A.Z. geschrieben, “sie schreitet den ganzen Kreis der Schöpfung aus, vom Himmel durch die Welt zur Hölle, und verwandelt alles, demütig und übermütig zugleich, in die Szene ihrer Liebe und ihrer Leiden. Es ist eine unvergessliche Szene.“ unbedingt weiter lesen


Noch mehr von Ranicki über sie:  

Zwischen leiser Zärtlichkeit und dröhnender Wut 
 
"Was er von den Versen Sarah Kirschs halte, wird Marcel Reich-Ranicki von einem Leser gefragt. Sie sei die Lyrikerin der großen Gefühle und mächtigen Leidenschaften, schreibt der Literaturkritiker, dem Kommunismus verbunden in enttäuschter Liebe. 
(...)  
Nicht der Klassenkampf zog die junge Sarah Kirsch an, wohl aber die gemeinsame Aktion, nicht marxistische Gedanken faszinierten sie, wohl aber die menschlichen Beziehungen im Zeichen einer nationalen Aufgabe und einer übernationalen Idee. Die Abwendung von der DDR erinnert an den Abbruch einer langjährigen Liebesbeziehung. Mit ihrer Übersiedlung in den Westen trennte sie sich von der Heimat, ohne damit ihr zentrales Erlebnis im Nachhinein zu verurteilen. In dem Gedicht „Der Rest des Fadens“, dem ersten in West-Berlin geschriebenen, hat sie hierfür das poetische Bild gefunden. Vom Drachensteigen ist die Rede, von einem „Stern aus Papier“.

Das Fazit, die Bilanz einer Generation, die sich in der DDR dem Kommunismus verschworen hat, lautet: „Uns gehört der Rest des Fadens und dass wir dich kannten.“ Die Hoffnung der Sarah Kirsch wurde enttäuscht. Man hat sie betrogen. Doch haben wir, berichtet Sarah Kirsch knapp, das Glück gekannt, an Ideale zu glauben, an eine Utopie. Und dieses Glück kann der Poetin keiner mehr nehmen." Mehr lesen

Über ihr Leben in der DDR und ihre Dichtung wunderbar geschrieben: Ach, geh nicht weck.
Über sie: Kurzbiographie

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