31. Dezember 2015

Granatapfelbaum

"Nicht wegen des nahenden Krieges, sondern aus einem anderen, unklaren Grund durchfuhr es mich manchmal im Innersten in jenem Herbst des Jahres 1947, vor lauter wehem Sehnen, vermischt mit tiefer Scham, dem sicheren Wissen bevorstehender Strafe und auch einem vagen Schmerz: Es war eine verbotene Sehnsucht, eine Sehnsucht durchtränkt mit Schuld und Kummer, nach den Labyrinthen jenes Obstgartens. Nach der Zisterne, die mit einer grünen Metallplatte abgedeckt war, nach dem fünfeckigen Zierbecken mit seinen himmelblauen Kacheln und dem Gold seiner Fische, die einen Moment im Sonnenlicht glitzerten und gleich wieder im Dicklicht der Wasserrosen verschwanden. Nach den weichen Kissen mit fein gewellten Spitzen. Nach den üppigen Teppichen mit den eingewebten Paradiesvögeln in paradiesischem Gezweig. Nach den Kleeblättern im Fensterglass, Blatt für Blatt mit eigenem Licht, ein Blatt rot, ein Blatt grün, ein Blatt golden, ein Blatt lila.
Und auch nach dem Papagei, dessen Stimme wie das Krächzen eines alten Rauchers klang: "Mais oui, mais oui, chère Mademoiselle", und nach einer Partnerin mit de Sopranstimme, die ihm glockenhell antwortete: "Tfaddal! S'il vous plait! Enjoy!"
Ich war doch einmal dort gewesen, in jenem Obstgarten, ehe ich schmächlich daraus vertrieben wurde, ich hatte ihn doch einmal mit Fingerspitzen berührt -
"Bass. Bass. Bass min fadlak. Uskut." "Genug. Genug. Genug bitte. Still."
Frühmorgen erwachte ich beim Duft des ersten Morgenlichts und sah durch die Ritzen des geschlossenen Eisenladens den Granatapfelbaum in unserem Hof. Dort, im Versteck jenes Grantapfelbaums, wiederholte jeden Morgen ein unsichtbarer Vogel präzise und mit leuchtender Fröhlichkeit die ersten fünf Töne der Melodie "Für Elise".
So ein redseliger Dummkopf, so ein lauter Dummkopf: Statt auf sie zuzugehen, wie der neue hebräische Mensch auf das edle arabische Volk oder wie ein Löwe, der sich zu Löwen gesellt, hätte ich doch einfach auf sie zugehen können wie ein Junge auf ein Mädchen? Oder nicht?"
Aus: Amos Oz, "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis", Suhrkamp Verlag, 1. Auflage 2006, S. 536-537.

 

Line of Life with Golda Meir (1977)

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