1. Oktober 2017

Vatertochter

Es ist nur vier Wochen her, seitdem die mir wohl wichtigste und mein Leben immens beeinflussende und kreierende Person, nein, ein Mensch, der Mensch, mein Mensch, der Lehrer, auch mein Lehrer, mein Vater nicht mehr da ist. Sein Herz schlägt nicht mehr. Ja, ich bin definitiv eine Vatertochter, seine Vatertocher gewesen. Genauso stur und zielstrebig wie er. Genauso verletzlich wie er, obwohl er ein sehr, sehr starker Mann war, mit der eisernen Willenskraft, Schönheit und unglaublichen Intelligenz, die mir bei den hin und wieder im Leben begegnenden Menschen selten so ersichtlich waren. Vielleicht, weil er gerade sehr viel älter als ich war. Er hat meine Ansprüche an die Umgebung und mein Gegenüber von Kindheit an sehr hoch geprägt, was natürlich nicht immer förderlich war; aber es war richtig von ihm, mich so zu erziehen, dass ich sehr viel von den Hirnen und Herzen der Anderen erwarten sollte. Er war viel zu ehrlich, was er auch mir eingeflößt hatte. 

Vater, 22 Jahre alt, 1943
 Er ist nicht da, nicht da, und diese vier Wochen kommen mir wie vier lange Torturjahrhunderte vor. Ich sehe ihn da im Krankenhaus, das ihn sterben ließ. Den Trost spendeten mir paar eigentlich fremde Menschen in ihren paar Worten in ihren Nachrichten, als ich noch die letzten Tage um sein Leben kämpfte und hoffte. Aber eigentlich gibt es keinen Trost. Ich werde nie die sarkastischen Phrasen der Ärzte im Krankenhaus vergessen, die ihn einfach sterben ließen, und ich sie anflehte, das Beste für meinen Vater zu tun, da er noch leben wollte. So unwürdig für ihn, sie haben ihn so sehr dort leiden lassen und erlaubten uns nicht, bei ihm nachts zu sein.
Er ist 96 Jahre, 8 Monate und sieben Tage geworden. Er, der Verstand und Mut hatte, mit seinen 20 Jahren nach Ausbruch des Krieges schwer verletzt, sich in der Ukraine für einen Volksdeutschen auszugeben und in der Kriegsgefangenschaft den ganzen Krieg in Deutschland zu überleben. Als Jude. Er, der später im Kampf der Sowjetunion gegen den Kosmopolitismus den Gulag hinter dem Polarkreis hinter sich bringen durfte. Er, den seine erste Ehe und vor allem Kinder aufgrund seines Judentums zerstörten. Der gewöhnliche Antisemitismus, der ganz gewöhnliche in der Sowjetunion. Er, der aus denselben Gründen nie ein Jurist in der Sowjetunion werden durfte und nur ein Dorflehrer in einem winzigen ukrainischen Dorf ihm zuteilwurde. Er, der Dorflehrer, dessen Schüler die ersten Plätze bei den Republikanischen Schulolympiaden belegten und viele von denen selbst Lehrer wurden. Deutschlehrer natürlich. Dann kam meine Mutter, später ich, und meine Eltern duften 40 Jahre zusammen sein. Nein, mein Verhältnis zum Vater war nicht leicht, eher schwierig, uns trennten zu viele Jahrzehnte und Ereignisse, aber gerade das auch prägte mich, mein Verhältnis zu der Geschichte, die ich nicht bloß aus den Geschichtsbüchern erfahren durfte, und meine große Liebe zu ihm, auch mein Verhältnis zu dem anderen Geschlecht, mein Verhältnis zu der Liebe und als Ergebnis meine zu sehr ausgeprägte Sensibilität. Als ich noch Schülerin war, hörte ich oft, wie er erzählte, wie sehr er Remarque mochte. Seinen Roman "Drei Kameraden" nahm er immer wieder mit seinen Schülern und Studenten durch. Die Zeit der Weimarer Republik, die Zeit der Zerbrochenen nach dem 1. und vor dem 2. Weltkrieg hatte Remarque dort brillant dargestellt. Es war auch meine Zeit seit dann. Die Frau, die der Held der Romans liebte, hieß Patricia oder kurz Pat. Als ich den Roman selbst mehrfach las, zuerst auf Russisch, dann auf Deutsch, verliebte ich mich in diese Figur, so dass alle meine ersten Nicks im Internet Patricia hießen. Es mussten viele Jahre vergehen, bis ich tatsächlich einem Pat begegnet bin, den ich meinem Vater endlich vorstellen konnte. Meinen Pat, den der Vater sehr in sein Herz geschlossen hatte, obwohl sie 66 Jahre trennten. Und so hat der Vater, ohne es zu wissen und leider nicht mehr hier atmend, mein Leben bestimmt.

Eine meiner Lieblingsphrasen:
„… ich liebte sie, und wenn ich ihr sagte: Komm, so kam sie, nichts stand zwischen uns, wir konnten uns so nahe sein, wie es Menschen nur können – aber dennoch war alles manchmal auf eine rätselhafte Weise verschattet und qualvoll, ich konnte sie nicht lösen aus dem Ring der Dinge, nicht herausreißen aus dem Kreise des Daseins, der über uns und in uns war und uns seine Gesetze aufzwang, den Atem und das Vergehen, den fragwürdigen Glanz der immerfort ins nichts abstürzenden Gegenwart, die schimmernde Illusion des Gefühls, dass im Besitzen schon wieder Verlieren war…"
Erich Maria Remarque, "Drei Kameraden"